Flugmeilengenerator | Erstbegehung Schwarze Wand im Höllental
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Text: Martin Feistl
Fotos: Silvan Metz
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Seit 2019 erweitert Martin Feistl das deutsche Mountain Equipment Pro Team um Susi Süßmeier, Robert Grasegger und Silvan Metz. Martin war Mitglied des DAV Expedkaders 2016-2018. Wenn er nicht in steilen Wänden und auf hohen Bergen unterwegs ist, studiert er Geografie an der Uni Augsburg und arbeitet in einem Augsburger Bergsportladen.
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Diese verdammte Bohrmaschine! Ich hänge am 9. Standplatz in knapp 300 Metern Höhe. Naja, eigentlich hänge ich an einem recht überzeugenden Cliff genau da, wo gerade der 9. Standplatz meiner Neutour entstehen soll. Wenn sich die Bohrmaschine nicht in der Reepschnur, mit der ich sie nachziehen möchte, verfangen hätte. Frei nach Erbse „drunter war nix und drüber kommt (noch) nix mehr“ hänge ich also fluchend an meinem Cliff und versuche mich erst mal zu beruhigen. Schwierig, wenn fünf Meter unter dem Cliff ein winziger Totem Cam kommt. Noch schwieriger, wenn drei Meter unter dem winzigen Totem Cam ein ähnlich winziger anderer Cam kommt. Und am allerschwierigsten, wenn… ihr wisst was ich meine. Irgendwann war die Bohrmaschine dann bei mir und ich auch noch da, wo ich sein sollte. Weil dieser Bohrmaschine aber jedes Mal etwas Anderes einfällt, wurde es noch lustiger: Nach großzügigen zwei Zentimetern war der Akku leer. Nach zwei von erwünschten acht. Jetzt möchte man meinen, ja was stellt er sich denn so an, dann soll der Seilpartner halt am unteren Standplatz einen vollen Akku dranhängen und weiter geht’s. Ja was stellt er sich so an? Mein Seilpartner war bei diesem ganzen Projekt über zwar immer der Gleiche und wir haben uns sehr gut kennengelernt, aber mit Reden oder anderweitigen Unterstützungen hat’s Stupsel nicht so. Stupsel ist mein Haulbag und – man kann es sich denken – nicht in der Lage mir einen Ersatzakku zukommen zu lassen.
Der Anfang
Zeitsprung: Es ist das Jahr 2015 und ich versuche kurz vor meinem 18. Geburtstag zum ersten Mal eine Erstbegehung an einer «echten» Wand. Zumindest fühlt es sich so an. Wo ich bisher in Wandfluchten die schönen und schwierigen Passagen gesucht habe, suche ich hier auf einmal die leichteste, überhaupt mögliche Linie. Warum ich damals solo eingestiegen bin, gesichert mit einem 2er GRIGRI®, an dem ich davor ein bisschen rumgefeilt und gebohrt hatte, weiß ich schon gar nicht mehr. Wahrscheinlich hatte ich mit 17 Jahren ganz einfach keinen Partner, der Lust auf eine Erstbegehung an dieser Wand hatte. Ich verbrachte drei Tage dort oben im Höllental. Davon eine Nacht ohne Schlafsack und Isomatte in eine flauschige Bergwiese gerollt und die zweite Nacht auf einer Eckbank in der Stube der Höllentalangerhütte, weil die Wiese anscheinend doch nicht so flauschig war. Warum? Ich hatte keine Ahnung was ich bei meinem Projekt so brauchen werde und irgendwann war der Rucksack voll, aber eben ohne Schlafsack oder Matte. Am dritten Tag hatte ich dann nach gut 200 Metern keinen Saft mehr. Und die Bohrmaschine auch nicht. Also rumpelte ich mit einem riesigen Rucksack und einem Hilti-Koffer in der Hand durch die Höllentalklamm zurück zum Auto. Keine leichte Aufgabe bei dem regen Treiben in den engen Tunneln.
2018 war schließlich so viel Zeit vergangen, dass ich mir gar nicht mehr sicher war, ob ich im gereiften Alter von 20 Jahren die Route noch immer in dem für mich recht minimalistischen Stil beenden kann, wie ich sie begonnen habe. Also kam ich gespannt mit Andi Irler nach drei Jahren wieder, nur um überhaupt die bestehenden Längen zu klettern und Fixseile anzubringen. Nach vier Seillängen war Schluss mit Rotpunkt, nach fünf der Highpoint aus den Jahren davor erreicht – mehr schlecht als recht und ich war mir sicher, ich brauche doppelt so viele Haken in jeder weiteren Länge.
Erstbegehungs-Adrenalin
Wieder ein Jahr später, 2019: Ich bin hochmotiviert weiter zu bohren, habe einen Partner gefunden und das Wetter passt auch endlich. Einen Tag vor Abreise wird mein Partner krank. War’s das? Schon wieder verschieben? Nein! Ich habe noch einen Tag Zeit das 2015 gebastelte Solo-System meinen jetzigen Sicherheitsansprüchen anzupassen. Ich muss jederzeit so viel Seil bekommen, wie ich benötige, aber vor allem will ich da reinfliegen können! Zumindest theoretisch… in der praktischen Vorstellung. Also wird wieder gefeilt, ein bisschen anders gebohrt, stundenlang die Videos von Fabi Buhls Solos geschaut und ich nähe mir eine Aufhängung, die das GRIGRI® auch bei allen möglichen beim Klettern vorkommenden Verrenkungen in Position hält. Am selben Abend sammle ich noch schnell ein paar Flugmeilen in der heimischen Kletterhalle und probiere, wie es sich damit klettern und stürzen lässt. Mein kaum überraschendes Fazit: Ganz schön hart, aber je weiter, desto weicher. Nach 90 Meter Jümarn geht es dann endlich – drei Jahre später – weiter. Ich schaffe zwei Seillängen. Und die folgende Wandstelle, die mir seit drei Jahren Kopfzerbrechen bereitet hat, löst sich an diesem Tag in Wohlgefallen auf. Auf über 15 verschiedenen Fotos hatte ich alle möglichen Linien gesucht. Und dann das: Durch eine lange Querung über eine Tropflochplatte erreiche ich die einzige Schwachstelle, die sich jahrelang vor allen erdenklichen Fotoperspektiven versteckt hat. Ein 5er Riss in einer sonst strukturlos gelben Überhangwüste. Naja, abzüglich des Erstbegehungs-Adrenalins und zuzüglich meiner mangelnden Risskünste ist’s im Endeffekt wohl ein 6er. Trotzdem aber unfassbar einfach im Verhältnis zu all den anderen Routen an der Wand!
Eine Woche später laufe ich zum siebten Mal durch die Klamm zur Wand. Dieses Mal ist Silvan Metz dabei, er will von hinten auf den Gipfel laufen, sich von oben über die klassische Nordwestwand abseilen und die letzten Seillängen der Erstbegehung fotografisch festhalten. Der Solo-Gedanke leidet natürlich darunter, die Methodik bleibt aber dieselbe – und lustiger war’s. Wahrscheinlich, weil Silvan mehr redet als Stupsel.
Flugmeilen zum letzten Standplatz
Die letzte Fixseil-Strecke muss ich auf etwa 60 Meter frei hängend durch riesige gelbe Überhänge legen. Und wie ich mich da so um mich selbst drehend hochwinde, bleibt in den Pausen, die bei meinen eher gering ausgeprägten Jümar-Erfahrungen immer wieder notwendig sind, Zeit um durch die Gegend zu schauen. Der Blick schweift über das wilde Treiben am Normalweg zur Zugspitze, über das so nahe Bier auf der Hüttenterrasse bis zum Ende meines Fixseils, wo der Fels von roten Fusseln gesäumt ist. Moment. Rote Fussel? Roter Seilmantel? Und wo ist mein Seilschutz hin? Nach 15 nicht nur nervenzerreißenden Metern erreiche ich die Fussel. Dazwischen schimmert in einem strahlenden Weiß auf einige Dutzend Zentimeter freiliegend der Seilkern hindurch. Langsam taste ich mich an die beschädigte Stelle heran und blockiere so weit wie möglich nach oben. Am Umkehrpunkt angekommen war ich also nervlich eigentlich schon durch, aber Silvan seilt ja gerade von oben in die Wand und verlässt sich darauf, dass wir uns treffen und er über meine Fixseile nach unten abseilen kann. Also eine Tafel Schokolade zur Verdauung und weiter geht’s. Nach zwei neuen Seillängen und dem anfangs beschriebenen Konflikt mit der Bohrmaschine generiere ich dann die einzigen Flugmeilen, dank Faktor zwei in den Standplatz reicht’s damit dann aber auch wieder. Einen Tag später liegen auch die Ausstiegsrisse hinter mir und ich bohre den letzten Standplatz in der Sonne am Ostgrat. Das Gefühl dabei ist nicht beschreibbar. Auch nicht umschreibbar. Nach sieben Tagen Arbeit in der Wand ist es einfach da. Wie diese Linie. Jetzt ist sie da. Nein, sie war schon immer da, nur hat bis jetzt niemand mit meinen Augen diese Wand angesehen. Zwischen all den Routen im 9., 10. und vielleicht 11. Grad ist da dieser eine 8er, zusammen mit der klassischen Nordwestwand.
Rotpunkt
Konsequent wäre es natürlich gewesen, die Route jetzt auch solo Rotpunkt zu klettern. Ich hatte aber einfach keine Lust mehr, alleine in dieser wunderschönen Wand herumzuhängen und natürlich war ich gespannt, was andere Kletterer zu der Linie sagen. Also versuchte ich zusammen mit Matze Schlosser eine Rotpunktbegehung, die nicht zuletzt wegen eines suboptimalen Zeitmanagements in der Früh – naja eher am Mittag, wohl zurückzuführen auf eine zu hohe Dosis an Muskelrelaxantien – nach den ersten sechs Seillängen zu Ende war. Zwei Tage später startete ich zusammen mit Janina Reichstein den nächsten Versuch. Wir kletterten in Wechselführung und mit der Bohrmaschine im Gepäck bis zum 12. Standplatz, bohrten einen Wandbuchbehälter mit – nein, ohne Wandbuch darin. Ihr wisst ja: Der Fluch der Bohrmaschine, jedes Mal fällt ihr was anderes… Vom letzten Standplatz bis zum Gipfel hatten wir nur die Information «Vom letzten Stand weg ca. 200m seilfrei bis zum Gipfel – Kletterstellen bis III». Nach 60 Metern brüchigstem Schrofengelände bohrten wir einen Abseilstandplatz, von dort ging’s dann in zwar weiterhin recht spaßbefreiten Gelände, aber kurzweilig und maximal im 2. Grad in wenigen Minuten zum Gipfel. Im einsetzenden Gewitter rauschten wir dann mit glühenden GRIGRIs über die nassen Fixseilstrecken zurück zum Einstieg.
Die Frage nach dem Warum
Was bleibt ist eine eigenständige, phantastische, 500 Meter lange Linie im 8. Grad – und die Frage nach dem warum. Warum Camalots? Warum kein Plaisir? Warum soll dieses Stück Fels nicht jeder genießen können? Weil diese Linie mehr Demut, Erfahrung und mentales Engagement als reine Sportlichkeit fordern soll und darf. Diese Route ist meine persönliche Antwort auf den, nun ja, verbohrten Zeitgeist, der gerade den Stil vieler Erstbegehungen in den Nördlichen Kalkalpen bestimmt. Es muss nicht jeder überall hochkommen. Aber überall darf es jeder versuchen und dabei entweder das Scheitern als einen integralen Bestandteil des Kletterns – gleich nach Kaffee – erfahren oder aber am Standplatz sich dem wohlig warmen Gefühl des in die Adern strömenden Adrenalins nach durchgezogenem Runout der 9. Seillänge hingeben.
Alle Infos zu Martins neuer Route „Flugmeilengenerator“ an der Schwarzen Wand im Höllental gibt es auf bergsteigen.com.